Ein Wunder namens Aydin Esen
Von allen Musiken, die ich in meinem Leben gehört habe ist eine der eindrücklichsten die von Aydin Esen. Ich lernte den türkischen Pianisten vor etwa 20 Jahren in Boston kennen, wo wir beide studierten. Schon damals war es ein Mysterium, wie Aydin Musik schuf, scheinbar mühelos und ständig Grenzen überschreitend.
Die CD DIALOGO besteht aus Kompositionen, die in Echtzeit komponiert sind. In vielen Bereichen schafft Aydin Esen am Klavier und mithilfe von Keyboards und Live Elektronik etwas wirklich Seltenes: nämlich Neue Musik. Musik, die es bis dato nicht gab. Trotzdem bleiben die Klangwelten Aydins immer sinnlich und erzeugen komplexe, aber eindeutige Atmosphären. Was er spielt ist nie abstrakt, sondern harmonisch und formal bestechend stringent. Der türkische Musiker betreibt seit Jahrzehnten sein eigenes Laboratorium und treibt seine Musik voran, abseits aller Trends. Mit einer Jahrhundertbegabung geboren, hat der Virtuose im Laufe seiner Entwicklung die vorher beschrittenen Pfade der Klassik und des Jazz zugunsten seiner ganz eigenen Welt verlassen. Als Zuhörer schenkt er uns so etwas wie Funde aus dieser anderen Welt, die er mit seinem hoch entwickelten musikalischen Bewusstsein in der Lage ist zu bereisen.
Es ist nicht verwunderlich, dass es wenige Kategorien gibt, in die Aydin Esen passt. Jedenfalls ist es Musik, deren Haupteinflüsse im Jazz und in der klassischen Komposition des 20. Jahrhunderts liegen. Aydin war ab dem Alter von 2 Jahren am Klavier interessiert, wurde in Istanbul, Oslo und Boston ausgebildet und hat für seine Musik wesentliche Auszeichnungen wie 1989 den Ersten Preis des Internationalen Klavierwettbewerbs von Paris erhalten.
In Boston absolvierte er ein Studium am Berklee College of Music, welches üblicherweise vier Jahre dauert, in einem Jahr. Später erhielt er am New England Conservatory sein Masters Degree für Klavier und Komposition mit Auszeichnung.
Als jemand, der seine Musik über einen längeren Zeitraum verfolgt hat, kann ich sagen, dass seine geniale Handschrift unverkennbar ist: Man hört ein paar Töne und weiß, dass es Aydin ist. Seine Arbeit ist das Gegenteil von beliebig, beschreitet ständig neue Wege und dient einigen bekannten Kollegen von mir (wie Mick Goodrick, Dave Liebman etc.) als wesentliche Inspirationsquelle. Wie schön, dass es diese Quelle gibt. Nach einer Session Aydins mit Pat Metheny in Boston fragte dieser nur: „How did you get so good?“
Material Records freut sich sehr, diesen Schatz der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Wolfgang Muthspiel, Wien, am 17.August 2005